Was hat Schlafen mit Lernen zu tun?

 

If sleep doesn't serve an absolutely vital function, it is the biggest mistake evolution ever made! – Wenn Schlaf nicht einer absolut lebensnotwendigen Funktion dient, ist er der größte Irrtum, den die Evolution je gemacht hat!“ Diese Aussage von Alan Rechtschaffen, einem Pionier auf dem Gebiet der Schlafforschung, stellt zum einen die Bedeutung des Schlafes heraus, macht zum anderen aber auch deutlich, dass die Funktion des Schlafes lange Zeit im Dunkeln lag. Bekannt ist schon lange, dass Schlaf Erholung für den Körper und Einsparung von Energie und Resourcen bedeutet, aber Schlaf ist noch weitaus mehr. Es ist ein aktiver Zustand des Gehirns und darüber hinaus ein lebensnotwendiger; bereits nach wenigen Tagen ohne Schlaf gerät das Gehirn außer Kontrolle, sieht und hört Dinge, die es nicht gibt, wird paranoid, und Schlafentzug als Foltermethode eingesetzt kann zum Tode führen. Das Gehirn ist aber nicht nur das Körperorgan, das am meisten vom Schlaf profitiert, sondern zugleich der Generator des Schlafes: „Schlaf ist eine Eigenschaft des Gehirns, geht vom Gehirn aus und nutzt ihm“ (Hobson, 1990). 

 

Schlaf und Schlafstadien

Das Hineingleiten vom Wachzustand in den Schlaf (Abb. 15.1) wird über einen Kern im Hypothalamus reguliert. Dieser Kern steht in direkter Verbindung mit der Sehbahn, wodurch seine Aktivität mit dem täglichen Hell-Dunkel-Wechsel abgeglichen wird. Darüber hinaus nimmt er Einfluss auf die traumschlafsteuernden Kerne in der Brücke.  

 

Ein wesentlicher Punkt des Schlafeintrittes ist die Blockade der Sinnesaktivitäten auf Hirnstammebene, wodurch innere Aktivitäten auf kortikaler und subkortikaler Ebene in den Vordergrund rücken können. Dennoch werden nicht jegliche Umwelteinflüsse ausgeschaltet, starke Reize führen zu einem Erwecken, ständiger Lärm z.B. von vorbeifahrenden Autos o.ä. kann zum unbewussten Störfaktor mit schwerwiegenden Folgen werden. Die Aktivität der Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin und Acetylcholin koordiniert das Geschehen in einem Dialog von Aktivierung und Hemmung. Diese wechselnden Aktivitäten von Transmittern im Hirnstamm sind ein erster deutlicher Hinweis darauf, dass Schlafen ein aktiver Zustand des Gehirns ist.

 

Beim Hineingleiten in den Schlaf werden verschiedene Wellenmuster durchlaufen, die sich so in Schlafstadien einteilen lassen. Dabei wandeln sich die Wellenfrequenzen mit zunehmender Schlaftiefe von Potentialen mit niedriger Spannung (flach) und hoher Frequenz (schnell) zu Potentialen mit hoher Spannung und niedriger Frequenz (siehe auch Abb. 15.1). Der Nachtschlaf setzt sich aus aus 90-minütigen Zyklen zusammen, die in Perioden von REM- (Rapid Eye Movement wegen der in ihm auftretenden schnellen Augenbewegungen) und Non-REM-Schlaf unterteilt sind, wobei letzterer in vier Stadien unterteilt wird, von denen Stadium III und IV die tiefsten Stadien sind und deswegen als SWS (slow wave sleep) bezeichnet werden.  

 

Abb. 15.1: Schlafstadien mit ihren charakteristischen Wellenmustern im EEG (nach Hobson, 1990).

Die Darstellung als Treppe ist irreführend und ein Kunstprodukt, es handelt sich in der Realität um eine gleitenden Prozess, in dem nur zur leichteren Analyse Phasen abgegrenzt und numeriert werden. Stadium I: 4-8 Hz, Theta-Wellen; Stadium II: 8-15 Hz, Schlafspindeln (Folge kleinamplitudiger Wellen mit einer Frequenz von 12-14 Hz, die für etwa 1-2 Sekunden anhält und vornehmlich im Thalamus generiert wird); Stadium III: 2-4 Hz, Delta-Wellen und Schlafspindeln; Stadium IV: 0,5-2 Hz, Delta-Wellen; REM-Schlaf: 4-8 Hz, Theta-Wellen, PGO-Wellen.

 

Schlaf, Schlafstadien und das Lernen

Im Schlaf, wenn eintreffende Sinneindrücke bereits auf Hirnstammebene blockiert werden und dadurch innere Aktivitäten auf kortikaler und subkortikaler Ebene in den Vordergrund rücken können, werden Informationen und Lerninhalte des Tages, besonders aber auch aus der Phase kurz vor dem Einschlafen, verarbeitet, verstärkt und im Langzeitgedächtnis gespeichert.

 

Folgender Mechanismus wird hierfür angenommen: Im Wachzustand wird die aufgenommene Information zunächst im Hippocampus und der Amygdala, einem weiteren im Temporallappen gelegenen Areal des limbischen Systems, und weiteren kortikalen und subkortikalen Regionen „zwischengespeichert“. Während des dann folgenden Schlafes werden diese Areale reaktiviert, woran wiederum der Hippocampus beteiligt ist, um die vorbereitete Information für eine dauerhaftere Abspeicherung im Neokortex zu „konsolidieren“. Dabei wird eine partielle Umkehrung des Informationsflusses angenommen: Im wachen Gehirn erreichen die Informationen der externen Welt über die Sinnesbahnen und unterschiedlichen Rindenfelder des Neokortex den Hippocampus. Während des Schlafes laufen dann Entladungen der hippocampalen Nervenzellen rückläufig zum Neokortex. Getragen wird die Aktivitätsumkehr nicht nur durch die Blockade aufsteigender Sinnesbahnen, sondern ebenso auch durch die Blockade der tagsüber aktivierten Bahnungen zum Hippocampus. Zwei Schlafstadien werden als an dieser Konsolidierung besonders beteiligt diskutiert: Die REM-Phase und die Tiefschlafphase mit ihren langsamen Rhythmen, den so genannten slow oscillations, somit auch slow wave sleep genannt.

 

Dem REM-Schlaf wurde zunächst die meiste Aufmerksamkeit bzgl. der Lernforschung geschenkt, da er aufgrund der in ihm auftretenden lebhaften Träume offensichtlich an kognitiven Verarbeitungsprozessen beteiligt zu sein scheint. Zusammenfassend lassen sich für die REM-Schlafaktivität zwei Mechanismen für das Lernen annehmen: Da sind zum einen die Theta-Wellen (4-8 Hz), die auch im Wachzustand auftreten.  Die mögliche Wirkung der Theta-Wellen wird in der Langzeitpotenzierung hippocampaler Synapsenfelder gesehen, einer Form synaptischer Plastizität, bei der es zu einer Stunden oder Tage anhaltenden, aktivitätsbedingten Verstärkung der synaptischen Übertragung, dem zellulären Paradigma für Lernen, kommt.

Zum anderen sind die auffälligsten Wellen während des REM-Schlafes die so genannten PGO-Wellen (Ponto-Geniculo-Occipitale Wellen), die ihren Namen von der Tatsache her tragen, dass sie in der Pons generiert werden und über das Corpus geniculatum des Thalamus die Großhirnrinde und besonders die Sehrindenareale des Okziptallappens aktivieren. Die starke Beteiligung der Sehrindenfelder kommt besonders dadurch zum Ausdruck, dass wir in Bildern träumen. So werden im REM-Schlaf Schaltkreise aktiviert, die in den anderen Schlafphasen ruhen. Die Zellen in der Pons, die die PGO-Wellen generieren, projezieren darüber hinaus zum Hippocampus, der Amygdala und zahlreichen anderen Hirnregionen, die als an emotionalen Prozessen beteiligt angesehen werden. Auf diese Weise könnten die PGO-generierenden Zellen als Schlüssel für schlafabhängige, emotionale und kognitive Prozesse zugleich dienen

 

Nach neueren Erkenntnissen leistet aber auch der Tiefschlaf (den Schlafstadien III und IV zugeordnet) einen bedeutenden, wenn nicht möglicherweise sogar den wichtigeren, Beitrag zur Bildung von Gedächtnisinhalten. Verantwortlich für die Auswirkungen des Tiefschlafes auf das Lernen scheinen ebenfalls wieder die in ihm auftretenden spezifischen Schwingungszustände zu sein, die im Neokortex von den Delta-Wellen (2-4 Hz) vorgegeben werden. Endogene slow oscillations nehmen ihren Ursprung in präfrontalen Arealen, um dann als Traveling Wave mit einer Geschwin­digkeit von etwa 1,2-7,0 m/sec. über das Gehirn zu wandern. Diese langsamen Oszillationen tragen zum einen selbst zur Gedächtniskonsolidierung bei, bilden zum anderen aber auch die Grundlage für weitere schnellere Oszillationen, z.B. die so genannten Schlafspindeln. Diese werden im Thalamus gebildet und sind mit einem massiven Ca+-Einstrom in neo­kortikalen Pyramidenzellen und Langzeitpotenzierung in pyramidalen Synapsen verbunden. Dies könnte einen Transfer von Informationen von hippocampalen zu neokrotikalen Netzwerken bewirken. Schließlich treten im Tiefschlaf auch spontane hochfrequente Explosionsentladungen (bursts oder sharp waves genannt) auf, die im Hippocampus generiert und dann über den Neocortex laufen und die dortigen slow waves regelrecht stören. Die periodischen Störungen kortikaler Schaltkreise im Neokortex leisten einen wesentlichen Beitrag zur plastischen Reorganisation und Konsolidierung von jüngsten Gedächtnisspuren und deren Integration in ältere Gedächtnisspuren.

 

Auch wenn heute als sicher gilt, dass sowohl REM- als auch Tiefschlaf eine wesentliche Rolle bei der Gedächtnisverarbeitung spielen, ist noch offen, wie wer in welcher Weise dies tut. Erste Untersuchungen aus Schlafdeprivationen des einen oder anderen Teil des Schlafes legen nahe, dass das deklarative Gedächtnis stärker abhängig vom Tiefschlaf, das prozedurale Gedächtnis stärker abhängig vom REM-Schlaf sein könnte. Allerdings sind die Grenzen zwischen deklarativem und nicht-deklarativem bzw. prozeduralem Lernen häufig diffus und man weiß, dass viele verschiedene Gedächtnissysteme existieren, von denen man annehmen muss, dass sie mit den verschiedenen Schlafstadien oder sogar verschiedenen Komponenten dieser Schlafstadien korrelieren. Dies wird auch durch die Veränderlichkeit der Schlafstadien und –phasen durch verschiedene Lernaufgaben nahegelegt.

 

 

Fazit und Empfehlungen

Von der exakten Aufklärung der einzelnen Prozesse und Stadien des Schlafes und ihrer Funktionen bzw. Beiträge zur Gedächtnisbildung ist die Wissen­schaft noch weit entfernt, doch herrscht zumindest Einigkeit darüber, dass der Schlaf einen elementaren Prozess in der Verarbeitung von Eindrücken und Erlerntem spielt, Lernen ohne ihn nicht denkbar ist.

 

So können auch abschließend die Empfehlungen nur lauten, äußerst sorgfältig mit dem Schlaf umzugehen und ihn besser für das Gehirn zur Verarbeitung und damit auch zum Lernen zu nutzen.

 

Der zentrale Begriff hierbei heißt Schlafraumhygiene, womit nicht mehr nur das Freihalten des Schlafraumes von Störfaktoren zur Erhaltung der Schlafqualität (Licht, Elektronik etc.), sondern auch zur Unterstützung der Kapazitäten des Gehirns während des Schlafes gemeint ist. Den Schlaf für das Lernen zu nutzen, kann bedeuten, vor dem Schlafen Vokabeln zu lernen, Aufgaben zu lösen, Texte zu wiederholen, bzw. anzulesen, Dinge also, die man behalten möchte, mit in den Schlaf zu nehmen. Dies ist eine Option. Was aber eine Bedingung sein sollte, ist das Freihalten der abendlichen Aktivitäten von Horrorfilmen, „Non-Sense“-Fernsehsendungen, Handy-Gedaddel oder Computerspielen, um eine Verankerung dieser im Schlaf zu verhindern. Für alle Generationen, auch für ältere Menschen, gilt, dass geistige Betätigung die Schlafqualität sogar verbessern kann.

 

Literatur, Quellenangaben und Literaturhinweise: 

Schäfers, A, Teuchert-Noodt G (2011): Endogene Rhythmen, Schlaf und Lernen, Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 8(4): 55-65 (Link).

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