Explizites Lernen

 

Das explizite oder deklarative Lernen erfolgt durch bewusste Aufnahme von Informationen, die im Gegenzug später auch bewusst und aktiv wieder abgerufen werden können. Gespeichert werden im expliziten Gedächtnis sowohl semantische (d.h. Wissens-) Inhalte als auch episodische, d.h. Erinnerungen an vergangene Erlebnisse aus dem eigenen Leben. Der Langzeitspeicher des expliziten Gedächtnisses liegt im Neocortex, d.h. der Großhirnrinde. Der Weg in diesen Langzeitspeicher läuft über Strukturen im Schläfenlappen – insbesondere den Hippocampus – und unterhalb des Cortex liegende Neuronenkreise, die das sogenannte Kurzzeitgedächtnis bilden.

 

Die Schleifen des Kurzzeitgedächtnisses

Bereits innerhalb der stammesgeschichtlich alten Rindenstruktur des Hippocampus oder – richtiger gesagt – der hippocampalen Formation durchlaufen eingehende Informationen einen Neuronenkreislauf, von dem aus sie in einen größeren Schaltkreis, den Papez-Kreislauf, gelangen. Dieser zieht vom Hippocampus über den Fornix zu den Mamillarkörperchen des Hypothalamus, durch den Thalamus zum Gyrus cinguli und von dort schließlich zurück zum Hippocampus. Anatomisch Interessierte können die neuroanatomischen Details im Kapitel zum Hippocampus bzw. zum Papez-Kreislauf nachlesen. Funktional ist das Ganze in der folgenden Bilderfolge dargestellt.

 

Abb. 14.4.1: Bilderfolge Kurzzeitgedächtnis: 

Vom Auge gelangt die Information (rex=König) zur Sehrinde
Von der Sehrinde gelangt die Information zum Hippocampus im Schläfenlappen...
...und darüber in die Papez-Schleife, die Schleife des Kurzzeitgedächtnisses.

 

Werden die Inhalte, die sich im Kurzzeitgedächtnis befinden, nicht wiederholt oder verstärkt (siehe unten), so verblassen sie in der Regel innerhalb weniger Stunden (maximal 24h) wieder.

 

Werden die Inhalte jedoch wiederholt und dem Kurzzeitgedächtnis erneut dargeboten, so werden sie innerhalb der Schleife sogar verstärkt. 

 

 

Merke: Das Kurzzeitgedächtnis ist kein Chip auf den Informationen kurzfristig eingeschrieben und wieder gelöscht werden, sondern ein Neuronenschaltkreis, in dem bestimmte eingegangene Informationen für eine bestimmte Zeit kreisen und langsam – innerhalb von 24 Stunden – wieder verblassen und schließlich ganz verschwinden, wenn sie nicht wiederholt und verstärkt werden.

 

 

Emotionen

Darüber hinaus werden die Informationen durch Emotionen beeinflusst. Positive Emotionen führen zu einer Verstärkung der Lerninhalte im Kurzzeitgedächtnis. Zu den positiven Emotionen zählt zum einen die Motivation, die eine verstärkte gerichtete Aufmerksamkeit bewirkt, die wiederum zu Aktivierungen im Thalamus führt, der dieser Information dann eine größere Wichtigkeit beimisst. Zum anderen spielt das sogenannte Belohnungssystem eine Rolle. Immer, wenn eine Situation oder eine Information besser ist als erwartet, wird dieses System aktiviert. Dabei nimmt insbesondere der Nucleus accumbens aktivierend Einfluss auf die gerade im Kurzzeitgedächtnis befindlichen Inhalte.

 

Abb. 14.4.2: Bilderfolge Lernen, Motivation und Belohnung ("besser als erwartet"):   

 

 

Vom Auge gelangt die Information, dass Hannibal mit Elefanten die Alpen überquert hat, an die Sehrinde.
Von der Sehrinde wird die Information an den Hippocampus weitergegeben. Ist die Information spannend und besser als erwartet, wird zudem der Nucleus accumbens, ein wichtiger Kern des Belohnungssystems, aktiviert.
Der aktivierte Nucleus accumbens sendet an den Hippocampus das Signal, dass die spannende Information vorrangig abgespeichert werden muss.
Der Hippocampus "schickt" die Information daraufhin bevorzugt in die Papez-Schleife.

 

Genau die gegenteilige Situation finden wir bei Angst. Angst ist eine lebenswichtige Funktion. Angstauslösende Reize müssen bevorzugt gelernt werden, da ihre Vermeidung eine Grundlage für das weitere Überleben ist. Findet die Maus z.B. ein neues Futterversteck, trifft dort aber auf einen Fuchs, so ist die Information Ort=Fuchs=Gefahr wichtiger abzuspeichern als die Information Ort=Futter. Ein zweiter Besuch des gleichen Ortes könnte nämlich tödlich enden! Situationen höchster Erregung oder Angst schreiben sich auch beim Menschen rasant ins Gedächtnis ein. Unfall- oder Überfallopfer bekommen dies teils lebenslang zu spüren. Lerninhalte, die wir hingegen bewusst aufnehmen wollen wie mathematische Formeln, Vokabeln oder Begriffsdefinitionen lösen in der Regel selbst keine Angst aus. Was uns in diesem Kontext aber Angst machen kann, sind die Rahmenbedingungen: Prüfungsangst, Versagensangst, die Angst vor dem Lehrer oder oder… Empfinden wir solche Ängste, so blockieren diese – da sie biologisch wichtiger sind – die eigentlichen Lerninhalte, also die, die wir eigentlich lernen wollen.

 

Abb. 14.4.3: Bilderfolge Lernen und Angst: 

 

Neben dem Inhalt wird auch der Kontext, z.B. der wütende Lehrer, aufgenommen. Dieser gelangt nicht nur zur Sehrinde, sondern die Information "Gefahr" führt auch zur Aktivierung der Amygdala, des Angstkerns.
Die Amygdala löst eine sofortige Angstreaktion über den Hirnstamm aus. Zudem sendet sie die Information "Gefahr" an den Hippocampus,...
...der den angstauslösenden Kontext bevorzugt bearbeitet.
Der nicht-emotionale Lerninhalt (rex=König) hat keine Chance mehr, in den Hippocampus und die Papez-Schleife zu gelangen.
Kontext und Gefahrinformation werden im Hippocampus verknüpft und bevorzugt abgespeichert (Angst ist überlebenswichtig und hat darum Priorität).

 

 

Der Weg in das Langzeitgedächtnis

Wie im Vorherigen deutlich wurde, läuft der Informationsfluss zunächst von den Rindenbereichen – wie der Sehrinde – zu den subkortikalen Gebieten, d.h. dem Hippocampus und den Strukturen des Papez-Kreislaufe, um ins Kurzzeitgedächtnis zu gelangen. Oben wurde aber auch gesagt, dass das Langzeitgedächtnis im Cortex liegt. Damit die Informationen vom Kurz- in das Langzeitgedächtnis gelangen können – ein Prozess, den man Langzeitkonsolidierung oder Gedächtniskonsolidierung nennt –, muss dieser Informationsfluss quasi umgedreht werden: von den subkortikalen Gebieten zurück zum Cortex.

 

Dies geschieht vornehmlich während des Schlafes. Während des Schlafes, nehmen wir keine – oder nur sehr wenige – Informationen aus der Umgebung auf. Somit gelangen von den Rindenfeldern kaum Erregungen zum Hippocampus und – unterstützt durch veränderte Botenstoffhaushalte während des Schlafes – ist eine Umkehrung des Informationsflusses möglich. Die Lerninhalte können von den subkortikalen Arealen aus zur Langzeitabspeicherung in den Cortex übertragen werden.

 

Abb. 14.4.4: Bilderserie Langzeitkonsolidierung (Langzeitgedächtnisbildung): 

 

Langzeitkonsolidierung passiert vor allem während des Schlafes. Im Schlaf gelangen keine neuen Informationen in die Papez-Schleife.
Der Informationsfluss kann umgedreht und die Gedächtnisinhalte in das Langzeitgedächtnis integriert werden.

 

 

Das Langzeitgedächtnis ist im gesamten Cortex lokalisiert – sofern man hier dann überhaupt noch von Lokalisierung sprechen kann. Jedoch werden visuelle Inhalte auch primär in der Sehrinde, auditive in der Hörrinde usw. abgelegt. Es ist naheliegend, dass die stabilsten Erinnerungen also die sind, die durch mehrere Kanäle aufgenommen wurden und somit auch an verschiedenen Orten des Cortex gespeichert wurden.

 

Abb. 14.4.1: Langzeitkonsolidierung im Cortex über verschiedene Kanäle

 

 

  

Der Hippocampus als Neuigkeitsdetektor 

Da der Hippocampus über diese Arbeitsweise auch als Neuigkeitsdetektor agiert, ist das bloße Wiederholen immer gleicher Inhalte jedoch wenig effektiv, um stabilere Erinnerungen zu erreichen. Sind die neu eintreffende und die bereits vorhandene und nun wieder reaktivierte Erinnerung identisch, so blockt der Hippocampus die Neubearbeitung ab. Den Inhalt kennt „er“ ja schon und „sieht“ somit keine Notwendigkeit, das Gleiche noch einmal zu bearbeiten (was eigentlich auch eine sehr ressourcensparende und effiziente Strategie ist). Dabei ist es ihm „egal“ wie stabil oder labil diese Erinnerung noch ist.

 

 

Abb. 14.4.5: Bilderserie Hippocampus als Neuigkeitsdetektor oder "Die große Langeweile": 

 

 

Ist im Cortex bereits eine Gedächtnisspur vorhanden...
...und wird die identische Information noch einmal aufgenommen,...
...gleicht der Hippocampus diese miteinander ab. Stellt er fest, dass sie identisch sind, spart er sich die erneute Abspeicherung. Der Inhalt wird nicht gefestigt! Stures 1:1-Wiederholen bleibt also ohne Erfolg! Der Hippocampus "möchte unterhalten" werden

 

 

Labilität versus Stabilität 

Im Verlauf dieser Seite wurde immer wieder der Vergleich mit einem Computer erwähnt. Dies ist oft in der Literatur der Fall. Hier sei aber noch einmal betont, dass es mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen Computern und menschlichen Gehirnen gibt. Bei der Festplatte eines Computers werden die Informationen isoliert nebeneinander eingeschrieben. Bei Bedarf können sie – so gut wie rückstandslos – wieder gelöscht werden. Wer schon einmal die Defragmentierung an seinem Computer genutzt hat, hat ein Bild davon, wie verstreut solche Daten auf der „Platte“ sein können, wie ineffektiv manchmal der Platz genutzt wird (so dass ja auch hin und wieder eine Defragmentierung nötig ist).

 

Das Gehirn speichert Informationen in Form von Verbindungsstärken zwischen Nervenzellen. Das Gehirn hat etwa 10 bis 14 Millarden Nervenzellen, die jeweils ca. 10.000 Verbindungen zu anderen Nervenzellen unterhalten. Die Zahl der Verbindungen im Gehirn insgesamt und damit die Zahl der bits sei hier einmal ausgespart. Diese Verbindungen haben die Fähigkeit sich in Abhängigkeit ihrer Aktivität zu verändern. Dieses Phänomen nennt man Plastizität. (Wer sich für die zellbiologischen Details interessiert, sei auf das entsprechende Kapitel verwiesen.) Plastizität ist nicht einfach rückgängig zu machen, einen Löschvorgang wie beim Computer gibt es also nicht. Neue Zellverbindungen können immer nur auf Grundlage der vorhandenen geschaffen werden.

 

Exkurs zur Veranschlaulichung:

Um Plastizität zu verdeutlichen kann man gut den Vergleich mit einer Skihütte heranziehen. Man stelle sich vor, ein Lift führe auf einen Berg. Oben gibt es zwei Skihütten dicht nebeneinander, aber nur eine davon hat geöffnet. Da es keinen Räumdienst gibt, ist der Weg zu Hütte durch den tiefen Schnee sehr beschwerlich. Doch je mehr Gäste kommen und immer wieder den gleichen Weg laufen, desto besser ausgetreten wird der Trampelpfad. Nun schließt diese Skihütte und die direkt daneben liegende öffnet. Was tun die Gäste? Bahnen sie sich einen neuen mühsamen, langen Weg vom Lift direkt zur offenen Skihütte? Natürlich nicht. Sie benutzen den schon vorhandenen Trampelpfad zur ersten Hütte und bahnen sich von dort nur noch einen kurzen neuen Weg zur zweiten nun offenen Hütte, weil dies viel weniger anstrengend ist.

 

 

Plastizität hat verschiedene Ausprägungen im Gehirn. Im Cortex, dem Langzeitgedächtnis, läuft sie verhältnismäßig langsam ab, benötigt Stunden bis Tage. Dies sorgt für die notwendige Stabilität der Gedächtnisinhalte. Im Hippocampus, dem – salopp gesagt – Antreiber des Kurzzeitgedächtnisses hingegen herrscht hochgradige Plastizität. Der Motor hierfür ist die Zellneubildung, die in einer Region des Hippocampus stattfindet. Dieses Phänomen nennt man Neurogenese. Die Neurogenese treibt die Plastizität hoch, da die neu einwachsenden Nervenzellen „mitreden“ wollen, also nach Integration in das bestehende Netzwerk verlangen. Dadurch zwingen sie ihre Nachbarzellen geradezu zum Umbau. So kommt in das gesamte Netzwerk eine hohe Dynamik und Labilität, die ein schnelles Reagieren auf und Verarbeiten von neu eintreffenden Informationen ermöglicht.

 

 

 

Hippocampus

Kurzzeitgedächtnis und Transfer ins Langzeit-gedächtnis

Labilität

= hohe Dynamik der Plastizität

Schnelles Reagieren auf und Verarbeiten von neuen Informationen

Cortex

 Langzeit-

 gedächtnis

 Stabilität

 = geringere 

 Plastizität

 Stabile Erinnerungen,

 Erfahrungsschatz


 

 

 

Reaktivierung - Instabilität zu Gunsten größerer Stabilität

Werden Gedächtnisinhalte reaktiviert, d.h. im Zuge einer Erinnerung aufgerufen, so werden sie vom Hippocampus aus dem Cortex heraus wieder abgerufen. Dadurch verlieren sie zunächst ihre Stabilität. Die „alte“ Information wird mit der „neuen“ verknüpft und dann erneut zur Langzeitspeicherung dem Cortex übergeben. Die neu entstehende Gedächtnisspur gleicht nicht mehr exakt der alten (im Cortex werden Inhalte eben nicht wie auf einer Computer-Festplatte nebeneinander, sondern verknüpft „abgelegt“), ist aber durch Reaktivierung und Verknüpfung deutlich stabiler als die vorherige.

 

 

Abb. 14.4.5: Bilderserie Reaktivierung und Stabilisierung von Gedächtnisinhalten: 

Wie gewohnt gelangen Lerninhalte über das Auge, über die Sehrinde zum Hippocampus.
Erkennt der Hippocampus Bekanntes wieder, startet er einen Gedächtnisabruf aus dem Langzeitgedächtnis im Cortex.
Die Vokabelbedeutung für "rex=König" kann aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden. Durch diese Reaktivierung wird die Erinnerung wieder destabilisiert.
Der "alte" und der neue Gedächtnisinhalt werden im Hippocampus verknüpft...
...und schließlich gemeinsam verknüpft in das Langzeitgedächtnis überführt. Die alte Erinnerung ist nicht mehr als Einzelnes verhanden, sondern verknüpft und dadurch zugleich verstärkt mit der neuen Erinnerung.

 

 

Konkurrenz 

Verschiedene Punkte wurden angesprochen, die die Aufnahme von Lerninhalten in das Langzeitgedächtnis fördern oder hindern können. Auf einen wichtigen letzten Punkt sei hier noch einmal hingewiesen:

 

 

Lernen findet nicht allein in der Schule oder am Schreibtisch statt. Wir lernen immer – im Leben und durch das Leben. Da das Gehirn aber nur wenige Dinge gleichzeitig in die Kurzzeitgedächtnisschleife aufnehmen und in das Langzeitgedächtnis transferieren kann, muss es eine Hierarchie bilden, welche Inhalte die wichtigsten sind und dementsprechend Vorrang haben. Wie oben beschrieben wird diese Hierarchie durch Neuigkeitswert, Bedeutsamkeit und positive oder negative Emotionen bestimmt. Lernen wir also zunächst Vokabeln stur aus dem Buch und ohne Abwechslung, so wandern diese mit viel Müh und Not durchaus zunächst in die Kurzzeitgedächtnisschleife. Sozusagen zur Belohnung gönnen wir uns anschließend einen schönen Videoabend, schauen z.B. Madagaskar (siehe Animation) und gehen dann Schlafen. Der Film erregt unsere Aufmerksamkeit und unsere Emotionen höchstwahrscheinlich deutlich mehr als das sture Vokabelpauken. Und was wird nun – insbesondere direkt vor dem Schlafengehen, also vor dem Langzeitkonsolidierungsprozess – besser im Gedächtnis bleiben???

 

Abb. 14.4.6: Bilderserie Konkurrenz der Lerninhalte:

Gerade gelernte Vokabeln befinden sich noch im Kurzzeitgedächtnis. Zur Ablenkung "nach getaner Arbeit" schaut man gern mal ein Video - z.B. Madagaskar...
Über die Sehrinde gelangen auch die Informationen und Bilder aus dem Video ins Kurzzeitgedächtnis.
Da der Film die Aufmerksamkeit stärker erregt als die Vokabeln und positivere Emotionen hervorruft, haben die Filminhalte auch in der Kurzzeitgedächtnisschleife Vorrang...
...und werden dementsprechend auch bevorzugt zur Langzeitspeicherung in den Cortex weitergegeben.
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